Wie verändert die ländliche Lebensweise durch KI? Xiaowei Wang hat China besucht und ein faszinierendes Buch geschrieben, das die Klischees sowohl über Fortschritt als auch über Rückschritt rüttelt.
Die Dunstwolke ist so dicht, dass die Sonne kaum durchdringen kann. Der Horizontal Skyscraper, das Wahrzeichen der chinesischen Stadt Chongqing, ist nur ein leichter orangefarbener Schimmer, der sich gleich einem Wurm über drei weiteren Wolkenkratzern windet. Nach einer Fahrt von mehreren Stunden mit dem Bus aus der florierenden Stadt – der Smog ist mittlerweile verschwunden – befindet sich das grüne Hochland von Guizhou. Eine einzige asphaltierte Straße führt weiter zum Dorf Sanqiao, das sich inmitten einer der ärmsten Regionen Chinas als Blockchain-Huhn befindet.
In ihrem aufregenden Buch Blockchain „Chicken Farm: Stories of Technology and AI in Rural China“ räumt Xiaowei Wang entschieden mit der üblichen Gegenüberstellung von Stadt und Land auf, die einfach als Fortschritt und Rückschritt bezeichnet wird. Wang ist eine Künstlerin und Kreativdirektorin eines Techmagazins in den Vereinigten Staaten, die zuvor als Softwareingenieurin in San Francisco arbeitete. Sie hat für dieses Buch die abgelegenen Gebiete Chinas besucht, um das menschliche Aussehen am anderen Ende der Glasfaserkabel zu betrachten und dem schwarz-weißen Denken zu entkommen, das nur Grauen oder Heilsversprechen in der Technologie sieht. Wang fordert stattdessen die Abkehr von der festen Vorstellung, dass der Rückzug und die Verweigerung von Technik die einzige Möglichkeit sind, wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erlangen. Es gibt keinen Heilmittel, der im Digital-Detox-Dorf auf die erschöpfte Seele aufgetragen werden kann. Es handelt sich um direkte Begegnungen mit dem Leben der Menschen, die sich nur durch das Wischen auf ihrem Smartphone oder den nächsten Klick in ihren Online-Warenkorb verstecken, da sie die Geschäfte hier mit ihren Produkten überziehen.
Im Stall spielt die KI bei zunehmendem Stress Entspannungsmusik
Bauer Jiang berichtet gleich von den Schwierigkeiten der traditionellen Freilandhaltung auf der Hühnerfarm in Sanqiao: Krankheiten, die schnell ausbrechen und zurückhaltende Käufer, die bezweifeln, ob die Hühner, die im Supermarkt eingeschweißt liegen, tatsächlich aus der versprochenen Landidylle stammen und ihren stolzen Preis wert sind. Vor kurzem hat Lianmo Technology, ein Digitalunternehmen, das nach Pilotprojekten im ländlichen Raum suchte, eine Lösung gefunden. Mittlerweile gibt es im Zentrum der Hühnerfarm Jiangs einen Überwachungsraum. Hier werden Daten von einem Hühner-Fitbit gesammelt, das jeden Schritt des Huhns überwacht. Wenn man nach drei Monaten zum Schlachter geht, wird die entsprechende Fußfessel in die Packung eingelegt. Für Kunden, die im Supermarkt den QR-Code scannen und das Leben des Huhns auf Schritt und Tritt nachverfolgen können, sichert die im Hintergrund agierende Blockchain die Datenqualität. Es ist sogar möglich, ein Foto des Huhns auf der Website zu erhalten, bevor es in den Ofen kommt.
Gerade die ländlichen Regionen bieten Internetgiganten wie Alibaba unendliche Möglichkeiten für ihre Auswirkungen. ET Agricultural Brain ist eine künstliche Intelligenz, die Schweinezuchten in Echtzeit überwacht. Darüber hinaus erkennt sie Krankheiten frühzeitig und spielt computergesteuerte Entspannungsmusik bei steigendem Stress im Stall. Die Agricultural Brain kontrolliert zunehmend auch die Bauern auf den Feldern mit selbststeuernden Agrardrohnen. Die Vision: Bald wird der Algorithmus allein aus den gesammelten Daten herausfinden, wie man die beste Bewässerung auswählt, wie viele Pestizide verteilt werden und wann die angebauten Melonen den idealen Reifegrad erreicht haben. Wang findet auf dem eigenen Campus der Firma, auch Cloud Town genannt, das passende Leitmotiv in einem Gedicht: „Code / Zeile für Zeile / Errichtet er die Grundlage / der Ewigkeit / wie der Sand / Körnchen für Körnchen / beruhigt die stürmische See.“ Obwohl menschliche Bauern das maschinelle Lernen der KI noch korrigieren und die Datenbank mit ihrem Fachwissen füttern. Das ist jedoch bald vorbei, wenn es nach dem Unternehmen geht. Die Bauern werden ihrer Existenzgrundlage entzogen, indem jeder Zeile neuer Code geschrieben wird.
Die Politik, wie das Dekret Made in China 2025, setzt zunehmend auf eine Ruralisierung, um dem Trend der Urbanisierung seit Mitte der Achtzigerjahre entgegenzuwirken. Eine Mischung aus Parteilinie und Plattformökonomie ist entstanden, ähnlich wie im abgelegenen Dorf Dinglou, wo vor einigen Jahren E-Commerce aufgekommen ist. Bei Wangs Besuch befindet sich in der Parteizentrale eine ausgeblichene Flagge der Kommunistischen Partei, auf der der leitende Slogan in Comicschrift „Na, heute schon Taobao gemacht?“ angebracht ist. Taobao, ein weiterer Unternehmenszweig von Alibaba, dient hauptsächlich als Marktplatz, auf dem kleine und kleinste Unternehmen ihre Waren direkt an Endverbraucher verkaufen können, neben Arztterminen oder Kreditvergabe. Man kann hier alles finden, einschließlich Regenschirme in verschiedenen Tierformen und -mustern, große rote Datteln wie Hühnereier, Tee, frittierte Teigtaschen, empfohlene Bücher und handgefertigte Kostüme aus Dinglou.
Ein paar Schritte von der Parteizentrale entfernt, in der unterirdischen Werkstatt unterhalb eines Wohnhauses, zerschneidet eine Frau lange Stoffbahnen mit einer Stichsäge, während ihre Schwiegermutter Verpackungen mit Etiketten beklebt. Auch in der benachbarten Siebdruckerei des Dorfes laufen die Maschinen auf Hochtouren. Ren Qingsheng, ein Pionier des E-Commerce in Dinglou, erklärt, dass es eigentlich eine Idee seiner Frau war. Sein kleiner Agrarbetrieb brachte nicht mehr genug Geld ein, um die Familie zu versorgen, als seine Frau beim nächstgelegenen Sandwerk in Frührente ging. Zu dieser Zeit fertigte ein Ehepaar im Dorf Fotostudios-Kostüme. Sie fuhren mit dem Fahrrad von Dorf zu Dorf, um sie zu verkaufen. Seine Frau hörte von Taobao und sie eröffneten mit einem Kredit ihren Online-Shop. Es dauerte Monate, bis die erste Bestellung ankam. Als sie endlich ankamen, schickten sie die georderten Kostüme und warteten gespannt darauf, was passieren würde: Jeden Tag ging ich zur Bank und schaute mir den Kontostand an. Und das Geld ist tatsächlich gekommen! Meine Frau und ich machten uns sofort auf den Weg, um ein fettes Huhn zu kaufen, das wir zum Abendessen schlachteten. Die seltsamen Gehversuche entwickelten sich schnell zu einem profitablen Geschäft; Die Kostüme brachten 2017 1,16 Millionen US-Dollar ein. Das gesamte Dorf ernährt sich nun als Online-Händler.
Wang sucht in den USA nach Dinglou-Kostümen und findet schnell ein Schneewittchen-Kleid auf Amazon. Das kleine chinesische Dorf nähert sich dem Höhepunkt des E-Commerce: „Obwohl das Internet einst Entkörperlichung verhieß, war es nie materieller als heute.“ Die Idee, dass es zwei separate Welten gibt, eine physische und eine digitale, ist eine einfache Fiktion. Dinglou ist eine der zahlreichen Taobao-Dörfer, die aufgrund der zunehmenden Verstofflichung des Internets entstehen. Dort wird alles hergestellt, von Holzspielzeug über Kleidung und Bonbons bis hin zu PC-Lüftern. Taobao-Dörfern wurden bereits Modetrends wie der vom New York Magazine angepriesene Daunenmantel Orolay hergestellt.
In der Jugendkultur gibt es jedoch bereits Kritik a der staatlich geforderten und geförderten Betriebsamkeit, welche eine chinesische Version des American Dream darstellt. Das Zeichentrickschwein Peppa Wutz, das normalerweise so schnell lernt, wurde zum Maskottchen ernannt. Als Ausdruck der Bewegung, die als shehui ren bekannt ist, wirbelt es mit Zigarette und Sonnenbrille durch die sozialen Medien. Yang Yuting, ein Forscher der Jugendkulturen a der Beijing Normal University, sagte bei einem Treffen mit Wang, dass Shehui Rens, die auf einen festen Job, eine Zukunft und unproduktive Mitglieder der Gesellschaft pfeifen, die Normvorstellung der Gesellschaft parodieren. Der Versuch der staatlichen Zensurbehörde, die sozialen Medien „von der möglichen Beeinträchtigung für das positive Wachstum der Gesellschaft“ zu befreien, war eine satirische Parodie einer Zeichentrickfigur. Ein Bekenntnis zum Scheitern findet allein in der chinesischen Version des amerikanischen Traums regulatorischen Widerhall.
Mit Wangs Buch kann man eine Erkundungsreise unternehmen, besuchen Rechenzentren, die in Höhlen errichtet wurden, und die Fortschritte der KI in lauten Bürogebäuden oder in einer Joghurtbar in Palo Alto hören. Naomi Wu, die sich selbst als Cyborg bezeichnet, läuft über einen Elektromarkt in Shenzhen und zeigt freimütig ihre Kopfmodifikationen und aufleuchtende Brustimplantate. Danach besucht er mit Wang eine Polizeistation, wo ein KI-Modell verspricht, die „totale Kontrolle über die Bevölkerung“ durch schwierige Kartografie von Wohngebieten zu erlangen. Wang verknüpft auf dieser Reise persönliches, wie sein eigenes Aufwachsen als Kind chinesischer Migranten in den Vereinigten Staaten, mit politischem, wie dem Aufschwung Chinas in den vergangenen Jahrzehnten als auch als Digitalmacht. Was bleibt nach einem solchen Spaziergang durch die Welt der künstlichen Intelligenz übrig, die bereits unseren täglichen Lebensstil prägt, sei es in der Stadt oder auf dem Land? Für Wang ist die digitale Tristesse, in der wir eine endlose Datenspur hinter uns herziehen, ein letzter Rest der Poesie: All die gesammelten Daten sagen „nichts über die poetische Stimmung meiner Morgenstunden aus“, mahnt sie halb sich selbst, halb uns, „nichts über den Moment zwischen Traum und Erwachen“. Möge das langsam aufwachen in der bereits digitalisierten Welt nicht als schrecklicher Albtraum enden.